In stressigen Situationen kommt’s darauf an, einen (möglichst) kühlen Kopf zu bewahren. Fassaden bröckeln schnell, Make-Up verschmiert. Wichtig also, einen “guten Draht” zu haben – zu Menschen, vor allem aber zu sich selbst. Denis Mourlane weiß mehr…
Menschen, die übertriebene Schuldgefühle haben, sind permanent in Sorge, die Rechte eines anderen verletzt zu haben. Und Menschen, die frustrierter, trauriger und hoffnungsloser sind, als es ihrer Lage entspricht, und die die Stärken und Fähigkeiten in sich tragen, um Probleme zu lösen, können diese einfach nicht erkennen. Es gibt aber auch Menschen, die sich weniger freuen, als sie könnten, und die weniger stolz sind, als sie es sein könnten.
Diejenigen, die stolzer oder mutiger sind, als sie eigentlich sein sollten, sehen wir als Coaches in der Regel nicht in der Beratung. Bei ihnen läuft ja alles bestens. Ihnen geht es erst einmal gut. All dies wird durch ein weiteres sehr gut untersuchtes psychologisches Phänomen unterstutzt: das emotionale Argumentieren.
Situationen (und sich selbst) richtig einschätzen
Dieses verstärkt in hohem Maße die im Sechs-Kreise-Modell geschilderten Effekte und ist, neben unseren manchmal verqueren Sichtweisen, der zweite Grund, warum Sie nicht alles glauben sollten, was Sie fühlen. Was hat es damit auf sich?
Wie gerade dargelegt, ist unsere Einschätzung einer Situation bzw. von uns selbst ganz entscheidend dafür verantwortlich, welche Emotion wir verspüren und wie groß diese ist. Je akkurater wir etwas einschätzen, desto akkurater werden wir auch situationsspezifisch fühlen. So lautet erst einmal eine der am besten untersuchten Annahmen der Psychologie.
Von Bedeutung ist hier der Teufelskreis, in den man über das emotionale Argumentieren auf der Basis einer inakkuraten Einschätzung gelangen kann. Hierzu ein Beispiel:
Ihr Vorgesetzter sagt Ihnen im Rahmen Ihres wöchentlichen Jour fixe, dass Sie ihn nächste Woche während eines Vorstandsmeetings vertreten und die Geschäftszahlen aus dem letzten Quartal vorstellen sollen. Ihre ersten Gedanken dazu sind, dass Sie sich wahnsinnig blamieren werden, dass Sie so etwas hassen und nicht in der Lage sein werden, die Zahlen so zu präsentieren, wie Sie es von sich selbst erwarten.
Ihre emotionale Reaktion ist Angst und diese sagt Ihnen, dass in naher Zukunft eine Gefahr droht. In diesem Fall bezieht sich die Angst vor allem auf das Bedürfnis nach Selbstwerterhöhung und Selbstwertschutz. Sie haben wahnsinnige Angst, an Ansehen zu verlieren. Nun läuft bei sehr vielen Menschen das erwähnte emotionale Argumentieren ab. Dabei wird die ≫Größe der Emotion≪ direkt als Beleg für die ≫Größe der Situation≪ genommen.
Dies heißt dann übersetzt zum Beispiel:
- Wenn ich so große Angst habe, muss eine sehr große Gefahr bestehen. Oder, nimmt man die anderen beschriebenen Situationen:
- Wenn ich so stolz bin, muss ich eine tolle Leistung vollbracht haben.
- Wenn ich keine Schuld empfinde, habe ich auch nicht die Rechte eines anderen verletzt.
- Wenn ich so angstfrei bin, besteht auch keine Gefahr.
Dieser Prozess kann Sie also in einen Teufelskreis führen. Aufgrund Ihrer inakkuraten gedanklichen Einschätzung der Situation (die Gefahr, sich zu blamieren, ist gar nicht so groß) empfinden Sie ein sehr starkes Angstgefühl. Dieses nehmen Sie mit allen Ihren Sinnen wahr.
Das wiederum führt dazu, dass Sie schlussfolgern, also emotional argumentieren, dass tatsächlich eine große Gefahr besteht. Die Tatsache, dass die Angst durch eine Fehleinschätzung und nicht durch die Situation selbst ausgelöst wurde, ist Ihnen nicht klar. Und so führt der Weg, dass es einem besser geht, häufig darüber, durch eine kritische Selbstreflexion genau dies zu erkennen und anzufangen, nicht die Situation, sondern sich selbst zu ändern.
Zusammenfassung
Sie haben in diesem Kapitel erfahren, dass Ihre Emotionen Ihnen in den allermeisten Fällen einen Hinweis darauf geben, ob Ihre psychologischen Grundbedürfnisse befriedigt oder verletzt werden. Da Sie jetzt die Sprache der Emotionen verstehen, wissen Sie, dass diese Emotionen Ihnen noch mehr Informationen liefern. Sie sagen Ihnen zum Beispiel, ob Sie in Gefahr sind, Sie Ihre eigenen Werte verletzt haben oder ob alles so ist, wie es sein soll. Genauso wie aber nun jemand Hunger haben kann, obwohl sein Körper gar keine Nahrung benötigt, können auch diese sehr sinnvollen emotionalen Regelkreise aus dem Gleichgewicht geraten.
Ihre Emotionen können Ihnen dann zwei entscheidende Streiche spielen. Sie können Ihnen Fehlinformationen liefern, weil Ihre Art zu denken ganz einfach inakkurat ist, und sie können Ihnen Fehlinformationen liefern, weil Sie von der ≫Größe der Emotion≪ automatisch auf die ≫Größe der Situation≪ schließen. Sie argumentieren dann in einer emotionalen Art und Weise, was außerordentlich hilfreich ist, wenn Sie akkurat denken und somit fühlen. Es kann Sie aber ebenso in die Irre leiten, wenn Sie inakkurat denken und somit auch inakkurat fühlen.
Der Weg zu einem Emotional Leader führt somit immer über mehrere Schritte:
- Die bewusstere Wahrnehmung unseren eigenen und der Emotionen anderer Menschen
- Das Verständnis dafür, wie Emotionen entstehen und was sie uns sagen
- Die bewusstere Steuerung unserer eigenen Emotionen
- Die bewusstere Steuerung der Emotionen anderer Menschen
Auszug aus: Denis Mourlane, “Emotional Leading: Die Kunst sich und andere richtig zu führen”, © 2015 dtv Verlagsgesellschaft, München.
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