Frust am Scheitern, Lust am Erfolg – nur leider bekommen wir das meist im Doppelpack. Clever also, wer es schafft mit beiden Seiten klarzukommen und sich darüber hinaus noch in mehreren Kulturkreisen bewegen kann. Denis Mourlane kennt sich damit aus..
Ich bin halber Südfranzose und zwanzig Kilometer von der spanischen Grenze entfernt aufgewachsen. Dort ist es ein wichtiger Wert (ein Wort, das nicht mit wertvoll gleichgesetzt werden sollte), seinen Ärger auch möglichst intensiv zu zeigen, indem man laut flucht und wild gestikuliert, während man ein solches Verhalten in Norwegen oder in asiatischen Ländern wohl nur milde belächeln würde.
Dort würde ich mit einer solchen Reaktion gegebenenfalls sogar mein Gesicht verlieren. Daran zeigt sich, dass die Beurteilung, ob eine emotionale Reaktion nun akkurat oder inakkurat ist, sofern man diese Entscheidung treffen möchte, auch immer auf der Basis der gesellschaftlichen und kulturellen Normen vorgenommen werden muss.
Trotzdem gibt es aus meiner Sicht zwei Wege, dieses kleine Dilemma zumindest ein wenig zu lösen. Eine Möglichkeit ist, die Person selbst urteilen zu lassen. Jeder muss am Ende des Tages selbst entscheiden, ob er sich emotional reif oder eher unreif in einer Situation verhalten hat. Ein Beispiel: Befindet man sich als Coach oder als Führungskraft in einer Beratungssituation bzw. einem Mitarbeitergespräch, kann man die Person fragen, wie sie ihre Emotion einschätzt. Findet sie, dass die Größe der Emotion der Situation entspricht?
Verschiedene Wege aus dem Dilemma
Ich zeichne dann immer die sechs Kreise auf ein Blatt Papier, erläutere das Modell kurz und bitte die Person anzugeben, welche der drei Möglichkeiten aus ihrer Sicht am ehesten zutrifft.
Ich versichere Ihnen, dass mein Gegenüber nur sehr selten zu einer anderen Einschätzung kommt als ich selbst. Aber die Person hat es selbst entdeckt und das ist deutlich angenehmer und auch zielführender, als wenn sich jemand vor einem aufbaut und sagt, dass er oder sie emotional unreif reagiert.
Der zweite Weg ist, akkurate bzw. inakkurate emotionale Reaktionen nicht per se als etwas Gutes oder Schlechtes anzusehen. (Sie erinnern sich vielleicht, dass ich in dem Kapitel zu den psychologischen Grundbedürfnissen bereits erwähnt habe, dass wir Menschen Dinge immer in gut oder schlecht einteilen wollen.)
Aus Erfahrung weiß ich, dass inakkurate Emotionen durchaus auch etwas Positives in sich tragen können. Das zeigt sich, wenn sich jemand durch immer wiederkehrende Übung eine eigentlich sinnvolle und schützende Emotion quasi abtrainiert hat.
Also, wenn Bergsteiger ohne jegliche Angst in einer Steilwand klettern oder Menschen vollkommen gelassen vor tausend Menschen eine Rede halten. Sie sehen nicht mehr die Gefahr, die sie noch bei den ersten Malen verspürt haben, und empfinden keine Angst, was natürlich den Vorteil hat, dass sie die Situation entspannt und souverän meistern können.
Neue Aufgaben begeistern uns, treiben an zu (neuen) Höhenflügen. Es birgt aber die Gefahr, und dessen sollten sich diese Menschen, auch wenn es ein wenig masochistisch anmutet, bewusst sein, dass sie die Situation unterschätzen und sich deshalb nicht mehr vollkommen angemessen verhalten.
Der Bergsteiger geht dann zu viele Risiken ein und der Redner bereitet sich nicht mehr ausreichend auf einen Vortrag vor. Ebenso kann es, im positiven Sinne, sein, dass ein Mensch ein enorm großes Begeisterungsgefühl für eine neue Aufgabe erlebt, obwohl dies erst einmal inakkurat erscheint bzw. die Aufgabe gegebenenfalls deutlich schwerer ist, als die Person annimmt.
Begeisterung für eine bestimmte Sache
Sie ist quasi blind vor Emotion und Motivation für das anstehende Projekt. Von Vorteil kann aber sein, dass die Person durch die verspürte Energie eine deutlich größere Bereitschaft hat, sich anzustrengen und das Ziel zu erreichen, während andere Personen der Sache sowohl gedanklich als auch emotional akkurat skeptisch gegenüberstehen und somit auch die Wahrscheinlichkeit verringern, das Ziel zu erreichen. Entsprechend bleibt, um für sich selbst eine Entscheidung zu treffen (denn das kann man tatsächlich nur selbst), nur der Weg über den mit unserem Verhalten angerichteten Schaden.
“Coaching, hilft!”
Damit meine ich, dass vor allem dann Handlungsbedarf für einen selbst besteht, wenn man sich mit seinen unreifen emotionalen Reaktionen selbst und/oder anderen schadet. Häufig trifft man auf solche Menschen im Coaching und, bei klinischen Fällen, in Psychotherapien.
Diese Menschen ärgern sich mehr, als es angebracht ist, und entwickeln in der Folge selbst Magengeschwüre oder die anderen bekommen sie. Menschen, die mehr Angst haben, als sie eigentlich müssten, bleiben weit unter ihren Möglichkeiten oder quälen sich unter (befürchtetem?) Druck unnötig.
Auszug aus: Denis Mourlane, “Emotional Leading: Die Kunst sich und andere richtig zu führen”, © 2015 dtv Verlagsgesellschaft, München.
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