Inmitten des digitalen Wandels, der Arbeits- und Lebensgewohnheiten grundlegend verändert, hält die herkömmliche Schule oft am Modell von vor 100 Jahren fest. Dr. Peter Rösner, Physiker und Leiter der Stiftung Louisenlund in Schleswig-Holstein, ruft dazu auf, sich von der Fabrikschule des 20. Jahrhunderts zu verabschieden. Bereits heute entsteht in Louisenlund ein Leuchtturm für die Schule von morgen. Eine Reportage über einen Ort, wo die klugen Köpfe sprießen…
Ein frischer Wind weht von der Schlei über den Park alter Buchen. Neben der strahlend weißen Schlossfassade erhebt sich ein moderner Bau, der an klassische Gewächshäuser erinnert. Hier, am Beginn des echten Nordens Schleswig-Holsteins, nimmt die Stiftung Louisenlund eine Vorreiterrolle im deutschen Bildungssystem ein. “Wir müssen uns von der Fabrikschule des 20. Jahrhunderts verabschieden”, lautet die klare Botschaft von Dr. Peter Rösner. “Kinder sollten nicht mehr nur aufgrund ihres Alters in Klassen eingeteilt werden, in rechteckige Räume gesperrt mit einer Tafel und einem Lehrer. Jedes Kind ist einzigartig. Daher plädiere ich dafür, den Unterricht nicht nur zu verändern, sondern ihn anders zu gestalten.”
Es ist neun Uhr morgens auf dem Campus Louisenlund. Der Duft von Kaffee strömt aus der Mensa, dessen Bohnen von einer kleinen Plantage am Kivu-See in Ruanda stammen. Ein Sechzehnjähriger hat alle Produktionsstufen vor Ort begleitet, von Anbau über Ernte bis zur Sortierung. Heute röstet er gemeinsam mit seinen Mitschülern die Bohnen, verpackt sie und verkauft sie sogar an Sternerestaurants. Seit 2015 unterstützt Louisenlund mit den Erlösen dieses Projekts eine Grundschule in Ruanda.
Dr. Peter Rösner führt weiter über das Gelände. Als Leiter der Stiftung Louisenlund, die aus einer Grundschule, einem Gymnasium mit MINT-Förderung und einer IB World School besteht, hat er in den letzten zehn Jahren einen ungewöhnlichen Transformationsprozess vorangetrieben. Sein Ziel: Ein leistungsfähiges, offenes und menschenfreundliches Schulsystem schaffen, das Empathie, Vielfalt und selbstgesteuertes Lernen ermöglicht. Während der Corona-Zeiten managte er den Bildungsdampfer mit 450 Tages- und Internatsschülern geschickt durch die Krise. Ein Weitermachen wie bisher wäre nicht ausreichend gewesen. Daher entschied man sich für einen Pioniergeist in der Pädagogik und Bildungsarchitektur. In dieser Zeit wurde der komplette Neubau eines Lern- und Forschungszentrums geplant und 2023 die ersten Gebäude eingeweiht.
Eigenverantwortung lernen
Die Architekten aus Hamburg entwarfen einen Typus aus Scheune und Treibhaus, um Rösners Überzeugung von der Abschaffung des traditionellen Schulmodells zu unterstützen. Die neuen Gebäude zeichnen sich durch viel Licht, Glas und natürliche Materialien aus. Das Herz des Lern- und Forschungszentrums pulsiert in einer Kette von vier Gebäuden auf einer Nutzfläche von 5.200 Quadratmetern. Eine Schülerin führt eine Besuchergruppe durch die neuen Lernräume: Whiteboardflächen, die von Wand zu Wand reichen, bodentiefe Fenster mit Blick in den Wald. Alles ist neu, Tische und Stühle rollen, schwingen, bewegen sich. Die Besuchsgruppe erlebt den Raum ausgelassen und lauscht der Schülerin, die von ihrem individuell gestalteten Schulalltag berichtet.
“Eigenverantwortung muss man lernen”
“Eigenverantwortung muss man lernen”, erzählt sie den erstaunten Zuhörern. “Das klappt nicht sofort, aber später ist es wie eine gut bestandene Challenge und macht Freude: Man hat den Stoff verstanden und kann ihn in neuen Situationen anwenden.” Freude ist ein häufig gehörtes Wort in Louisenlund. Die Schülerinnen und Schüler erleben sie auch in den verschiedenen Gilden. Neben dem Lernen im Schulgebäude sind die Gilden eine wichtige ergänzende Dimension des praktischen Lernens, die sich um Projekte wie Naturschutz, Sport oder Ehrenämter drehen. Lachen ist ebenfalls auf dem Campus zu hören, ebenso wie der fröhliche Gruß, der den Besuchenden entgegengerufen wird. Und davon gibt es viele, denn das Konzept von Louisenlund erregt Aufmerksamkeit.
Wissen, Fähigkeit, Kompetenz
“Lernen und kritisches Denken sind die Grundlagen für ein selbstbestimmtes Leben. Erworbenes Wissen, Fähigkeiten und Kompetenzen sind die Rohstoffe für die Zukunft unseres Landes”, erklärt Thomas Laqua und öffnet Interessierten die Tür zu den neuen, lichtdurchfluteten Lernbereichen. Laqua ist ein Experte für Bildungsarchitektur und mit seinem gemeinnützigen Unternehmen “wonderlabz” Spezialist für projektorientierte Lernräume, gleichzeitig Umsetzer der Stiftungsvisionen. Seit fünf Jahren ist er am Transformationsprozess beteiligt und sorgt mit seiner Innenarchitektur für die Balance zwischen Identität und Aufbruch. Wandelbare Seminarräume mit flexiblen Möbeln laden zur Vertiefung bereits vorbereiteter digitaler Unterrichtsinhalte in kleinen Lerngruppen ein.
Die angrenzenden offenen Lernlandstudios mit jeweils mehr als 300 Quadratmetern Fläche sind für das “Deeper Learning” konzipiert. Sie lassen sich mit farbigen Akustikvorhängen wie eine Theaterbühne in Sekunden verwandeln. Der Wunsch nach Offenheit und Interaktion der Lernenden wird genauso erfüllt wie der nach temporärer Fokussierung und Abgrenzung für konzentriertes Lernen im eigenen Tempo. Warmes Eichenholz, feuchtigkeitsregulierende Wollstoffe, angenehme Filzoberflächen, weiche Polsterstoffe und haptisch ansprechende Schrank-, Tisch- und Stuhloberflächen bieten eine nachvollziehbare Materialvielfalt und Formensprache für Lernende und Lehrende.
Diese Offenheit setzt sich auch in den MINT-Laborlandschaften fort. Keine Feuerzangen-Nostalgie, sondern ein heller Open Space mit klar zonierten Flächen und abgetrennten Spezialarbeitsbereichen wie dem Chemie- oder Biologie-S1-Labor. Genau so, wie es die Praxis in Forschung und Wissenschaft verlangt. Professionalität für besondere MINT-Talente: Ihre Projekte wie beispielsweise “oszillierende Schrauben”, “Windenergie für jeden” oder “Sonnenstürme prognostizieren” finden sich regelmäßig auf den ersten Plätzen des Wettbewerbs Jugend forscht wieder.
Karrierepläne und Perspektiven
Das alles allein als Ergebnis von Klassengesellschaft oder Elite-Internat abzutun, ist zu kurz gedacht. Für das Internatsgymnasium mit plus-MINT Programm, in dem TOP-Talente in den Bereichen Mathematik, Informatik, Naturwissenschaft und Technik gefördert werden, kann Schüler-BAföG beantragt werden. Die Besten aus Deutschland können sich ab der 10. Klasse für einen Platz bewerben – durch die Möglichkeit der BAföG-Förderung ist der Zugang zu plus-MINT unabhängig vom Einkommen der Eltern. Etwa 70 TOP-MINT-Talente lernen und forschen derzeit in Louisenlund.
Wie viel ist uns die Bildung unserer Kinder wert?
Insgesamt brachte die Stiftung Louisenlund 30 Millionen Euro auf, um eine neue Ära in der Bildung einzuleiten. “Louisenlund stellt pro Jahr und Schüler etwa doppelt so viele Ressourcen für das Lehren und Lernen zur Verfügung wie es der Staat für die öffentliche Tagesschule tut”, betont Peter Rösner. “Ich wundere mich darüber, dass wir in unserem Land nicht eine heftige öffentliche Debatte darüber führen, wie viel Geld uns die Bildung unserer Kinder eigentlich wert ist.”
“Ein Leben ohne Klassengesellschaft, Fabrikschule und Klassenzimmer, ein Ort, der persönliches Wachsen und vielfältige Erfahrungen in einer starken Gemeinschaft ermöglicht” – die Vision der Stiftung hat Gestalt angenommen. “Natürlich sind wir hier an der schönen Schlei nicht abgeschnitten vom Weltgeschehen”, sagt eine Schülerin, während sie ihre Tasche über die Schulter wirft. “Klima und Kriege – das alles macht traurig. Aber wir lernen, dass wir eine Stimme haben und damit etwas bewegen können. Und das bedeutet für mich Zuversicht.”
Artikelbilder: Madlen Krippendorf