Arbeitgeber in Erklärungsnot. Werben um neue Talente, ein mühsames Geschäft. Angebote? Austauschbar: „attraktive Vergütung“, „spannende Aufgaben“, „angenehmes Arbeitsumfeld“. Ein Plädoyer für unkonventionelle Lebensläufe. Von Kerstin Wadehn…
So lockt man sie sicherlich nicht mehr hinterm Bildschirm hervor, die Generation Facebook. So schaffen es nur wenige Unternehmen, die Frage aller Fragen klipp und klar zu beantworten:
Warum sollte ich bei Ihnen arbeiten und nicht bei der Konkurrenz? Vor kurzem waren es noch die Bewerber, die bei der Frage ins Schwitzen gerieten, warum man ausgerechnet sie einstellen sollte. Die Zeiten haben sich geändert.
Mythos der geraden Karriere
Im Kampf um Talente behauptet seit einer Weile ein bekannter deutscher Lebensmittel-Discounter, Karriere sei eine Gerade. Diese These reiht sich nahtlos an Mythen vergangener Jahrhunderte wie „die Erde ist eine Scheibe“ und „die Renten sind sicher“.
Wenn man davon ausgeht, dass der Werbespruch keineswegs ironisch sondern ernst gemeint sein soll, dann geht der Schuss entweder lautlos ins Leere oder dröhnend nach hinten los. Die Botschaft der „geraden Karriere“ signalisiert:
Bei uns marschieren Sie nur geradeaus oder geradewegs hinaus. Blicke nach links und rechts sind überflüssig – da gibt’s sowieso nichts zu sehen. Und so zieht der Werbende schnurstracks an Zielgruppe und Realität vorbei.
Bunter statt roter Faden
Dabei muss es doch mittlerweile in jedem Winkel der Republik angekommen sein, dass Karrieren nicht mehr linear verlaufen, der beständige Wandel zur Tagesordnung gehört. Erst die Ausbildung, dann die Arbeit, dann das Vergnügen: Das traditionelle Muster für Lebensentwürfe hat ausgedient.
Heute laufen Ausbildung, Arbeit und Auszeit parallel und in Wellen durch alle Lebensphasen. Nur so können Broterwerb, Ehrenamt, Kindererziehung, Angehörigenpflege, Weiterbildung und all die anderen Anforderungen überhaupt unter einen Hut gebracht werden. Das gilt übrigens für Männer und Frauen gleichermaßen.
Die jüngst wieder zum Köcheln gebrachte Diskussion um Quotenfrauen und Frauenkarrieren wird sich wieder abkühlen, sobald vielfältige Entwicklungsmöglichkeiten für alle angeboten und auch angenommen werden – und zwar nach Können und Wollen. Auch so mancher Mann wünscht sich beim Anblick der Karriereleiter seufzend, es gäbe echte Alternativen.
Vorwärts, rückwärts, seitwärts, ran
Viele Wege führen zur Arbeitszufriedenheit. Es kommt darauf an, wie man sein Navigationsgerät programmiert. Statt Leitern hochzuklettern, kann man ebenso gut seinen Job mit neuen Projekten anreichern, eine gleichwertige Position übernehmen.
Oder eine neue schaffen, den Geschäftsbereich oder das Tätigkeitsfeld wechseln, Aufgaben und Verantwortung abgeben und einen Gang zurückschalten. Moderne Unternehmen bieten dafür einen Mix aus verschiedenen Laufbahnmodellen.
Während flache Organisationsstrukturen der klassischen Führungslaufbahn mehr und mehr die Existenzgrundlage entziehen, gewinnen Fach- und Projektlaufbahnen an Boden.
“Experten sind (noch) keine Manager”
Viele Hochqualifizierte ziehen es vor, auf ihrem Spezialgebiet Spitzenleistungen zu vollbringen, statt Führungsaufgaben zu übernehmen. Jeder kennt die Geschichte des hervorragenden Experten, der in einer Führungsrolle samt Team untergegangen ist.
Ein Modell der Zukunft wird die Portfolio- oder Patchwork-Karriere sein. Wo es keine Jobsicherheit mehr gibt, setzen viele Wissens- und Wanderarbeiter bereits heute ausschließlich auf ihre Beschäftigungsfähigkeit und haben mehrere Arbeit- und Auftraggeber.
Wer sich also vom Getöse um den Fachkräftemangel nicht vollends betäuben lässt und die Ohren spitzt, hört plötzlich „Stimmen“ – und zwar von exzellenten Fachkräften und aus Richtungen, die er zuvor ignoriert hat.
Die vielfältigen Möglichkeiten der Erwerbsarbeit müssen daher dringend in Wirtschaft, Gesellschaft und Politik gleichermaßen anerkannt werden. Denn das vermeintliche Ideal der „unbefristeten Festanstellung“ besteht allenfalls noch auf geduldigem Papier und in den Träumen der ewig Gestrigen.
Flexibilität auf allen Seiten
Globale Vernetzung und Vielschichtigkeit des wirtschaftlichen Geschehens verändern die Arbeits- und Auftragsmärkte in schwindelerregendem Tempo.
Die rasante Entwicklung der Informations- und Kommunikationstechnologien macht Arbeit in ständig wechselnden Teams unabhängig von Raum und Zeit. Während den einen ob der Risiken und Gefahren einer rotierenden Arbeitswelt schwindelig wird, erkennen die anderen darin die vielen Chancen und Möglichkeiten beruflicher Aktivität.
Insbesondere die jüngeren Nachwuchskräfte der „Generation Y“ sind mit unzähligen Wahl- und Entwicklungsmöglichkeiten aufgewachsen. Sie haben daher hohe Erwartungen an eine erfüllende Tätigkeit und eine abwechslungsreiche Karriere.
Spaß an der Arbeit und der Wunsch nach Balance und Weiterentwicklung sind jedoch keine Privilegien der Jugend.
Auch viele ältere Semester wollen nicht frühzeitig aufs Abstellgleis geschoben werden.
Nicht nur der spätere Eintritt in die Rente, sondern auch die körperliche und geistige Fitness so mancher erfahrener Mitarbeiter jenseits der fünfzig oder sechzig Jahre erfordern ein Umdenken.
Zu jedem Zeitpunkt des Erwerbslebens sollte es also vielseitige Angebote an individuellen Betätigungs- und Entwicklungsmöglichkeiten geben. Flexibilität und Orientierung schließen einander nicht aus.
Wem darauf jedoch keine Antworten einfallen, der hat den Wettbewerb um Talente heute schon verloren.
Mit Mut auf neuen Wegen
Es ist also höchste Zeit für Fach- und Führungskräfte, Personalspezialisten und Arbeitnehmervertreter, an einem Strang zu ziehen und gemeinsam die ausgetretenen Pfade zu verlassen. Die Mitarbeiter als treibende Kraft sind selbst verantwortlich für ihre Entwicklung. Jeder Einzelne sollte wissen, was er gut und gerne macht und wie er seine Ziele erreichen und Grenzen überwinden kann.
Die fördernde und fordernde Kraft sind die Vorgesetzten. Es liegt mit an ihnen, jeden gemäß seiner besonderen Talente einzusetzen. Nur so können sich Menschen und Organisationen gleichzeitig entwickeln. Das beginnt schon bei der Einstellung (im doppelten Sinne).
Viele Manager neigen dazu, nur Kandidaten auszuwählen, die ihnen selbst ähnlich sind. Das erzeugt zwar wenig Reibungswiderstand, schadet jedoch der Innovationskraft.
Vielfalt oder „Diversity“ steckt im Kopf und nicht im Pass unter den Stichworten Alter, Geschlecht und Herkunft. Die wichtigsten Fragen lauten also: Was können Sie heute? Was können Sie morgen können? Wie passt das zu uns, unseren Zielen und Aufgaben?
Die Personalspezialisten schließlich haben als unterstützende und beratende Kraft dafür zu sorgen, dass ihre Handlungsfelder und Instrumente aufeinander abgestimmt sind. Nur durch das Zusammenspiel dieser drei Kräfte können die vielfältigen Möglichkeiten der Karriereentwicklung dauerhaft in der Unternehmenskultur verankert werden.
Investition in die Zukunft
So lassen sich die Knoten vieler brennender Probleme in der Personalarbeit lösen. Unternehmen mit einem effektiven und transparenten Karrieremanagement stärken ihren Ruf als moderner Arbeitgeber und sichern sich einen Vorsprung im Wettbewerb um Talente.
Sie gewinnen und halten motivierte, engagierte und produktive Fach- und Führungskräfte. Sie nutzen Kompetenzen, entwickeln Potentiale, fördern und fordern lebenslanges Lernen – und sparen damit am Ende auch noch bares Geld. Karriere kann eine Gerade sein, manchmal. Meistens ist sie jedoch sehr viel mehr.
Über den Autor: Kerstin Wadehn ist Inhaberin der “Karrieretextur”. Und als Beraterin, Interim Managerin und Autorin aktiv. Nach dem Motto „Karriere und Klartext“ setzt sie sich für mehr Vielfalt, Flexibilität und Transparenz in Personalentwicklung und -kommunikation ein…
Artikelbild: alphaspirit/ Fotolia.com
22 Kommentare
Sprechen wir hier wirklich von Deutschland? Gutes Plädoyer, aber aus persönlicher Erfahrung noch nicht in den Unternehmen angekommen. Ich glaube, daß Unternehmen in Stellenanzeigen zwar manchmal den Quereinsteiger, Unkonventionelle Lebensläufe und den Wunsch nach wirklichen Charakteren hervorheben (wie z.B. oft bei Unternehmensberatungen). Aber in der Realität sieht es einfach sehr anders aus. Aus meiner eigenen Bewerbungserfahrung vermisse ich in Deutschland diesen erweiterten Horizont; wie können neue “ways of working” aussehen?!
Ich fände es interessant, wenn mal ein Artikel geschrieben würde über neue Arbeitsformen in Großunternehmen. Z.B.. als Gegenpol zu den zumeist idealistischen Arbeitsformen des Co-Working und Durchbrechung von 9-5. Wie können Unternehmen neu lernen, agil Veränderungen zu bewirken und auf diese neuen Bewerberprofiler besser einzugehen. Vielleicht findet sich dazu ja ein bereitwilliges Unternehmen…