Agile Führungsstile helfen Unternehmen zu wachsen. Web 2.0-Techniken stellen alte Hierarchien in Frage. Anstatt Wert auf hohes Gehalt zu legen, bevorzugen Digital Natives flexible Strukturen, die sie nicht durch hierarchisches Denken, feste Präsenzzeiten oder Abteilungsgrenzen behindern. Agiles Management ist auf dem Vormarsch. Wie das neue Trend-Organisationsmodell funktionieren kann, berichtet Ronja Gysin…
Wenn Hörbert-Hersteller Winzki aus Frickenhausen bei Nürtingen in neue Räume umzieht, entscheidet nicht Inhaber Rainer Brang, wo Produktion, Versand oder Kundenbetreuung zu sitzen haben. „Meine Mitarbeiter wissen besser, welche Licht- und Platzverhältnisse für ihre Aufgabenbereiche notwendig sind“, begründet der 42-Jährige. Vor sieben Jahren startete Brang als One-Man-Show. In der Tasche eine gute Idee: Ein nachhaltiger MP3-Player für Kinder. Heute arbeiten 17 Mitarbeiter am sogenannten Hörbert mit. Und zwar zu einem großen Teil eigenverantwortlich.
Agiles Management nennt sich das Organisationskonzept, bei dem Projektteams die Entscheidungsbefugnis obliegt. Die Methodik fasziniert über Branchengrenzen hinweg: Mit atemberaubender Geschwindigkeit werden Probleme gelöst und überdurchschnittliche Wachstumsraten erzielt. Kein Wunder, dass immer mehr etablierte Industrieunternehmen Mitarbeiter zum Lernen in die Start-Up Szene einschleusen. Sogar dafür bezahlen, ein Quäntchen agile Kultur erfahren zu dürfen.
Managementaufgaben, Führungsfragen
In selbstverwaltenden Betrieben verwandeln sich Managementaufgaben in Prozesse und ersetzen pyramidenförmige Hierarchien. Im Klartext heißt das: Bei Winzki sucht das Beschaffungsteam passende Lieferanten ohne Rücksprache mit dem Chef aus. Brang erklärt die Logik dahinter: „Niemand hat mehr Interesse an funktionierenden Abläufen, als diejenigen, die sich ansonsten mit den Konsequenzen rumschlagen müssen.“ Der Unternehmer kommt nur ins Spiel, wenn Führungsfragen aufkommen oder neue Prozesse definiert werden müssen. „So bleibt genug Kapazität, um den Betrieb inklusive Geschäftsmodell weiterzuentwickeln“, freut sich der diplomierte Softwareingenieur.
„Für viele junge Firmen ist dieses Szenario Alltag“, beobachtet Johannes Woithon, der selbst seit neun Jahren ein IT-Unternehmen führt. Für den orgavision-Gründer ist Agilität der Schlüssel, um in der heutigen Vuca-Welt zu bestehen. Das Akronym Vuca steht für: Volatility, Uncertainty, Complexity und Ambiguity. „Durch die Digitalisierung wandelt sich unsere Umwelt immer schneller“, erklärt Woithon.
Firmen agieren in einer komplexen, unsicheren Welt. Zusammenhänge wirtschaftlichen Handelns sind nur sehr begrenzt überschau- und steuerbar. Betriebe müssen sich an diese Arbeitswirklichkeit anpassen – egal ob Start-Up, Mittelständler oder Big Player. Hilfestellung sollen verschiedene Forschungsprojekte bieten. So untersucht beispielsweise Organisationsforscherin Nele Graf an der Hochschule für Angewandtes Management in Berlin wie Teams gestrickt sein müssen, um mit Vuca-Herausforderungen fertig zu werden.
Reflektionsrunden und Mikro-Meetings
Das agile Konzept sieht vor, dass schnelle Reaktionen auf Marktverhältnisse über Perfektion stehen. „Produkte oder Dienstleistungen sind im Umkehrschluss nie fertig“, verdeutlicht Woithon. Anstatt wöchentlicher Reportings finden bei Winzki Reflektionsrunden und Mikro-Meetings statt.
Innovative Ideen müssen nicht durch zahllose Instanzen, bei denen oftmals kaum Fachkenntnis über die Problemstellung des jeweiligen Bereichs besteht. Entschieden wird fachlich, nicht politisch. In den meisten Fällen reicht es, wenn keine triftigen Gründe gegen Neuerungen sprechen. Das Verfahren ist schnell und schlank – in beide Richtungen. Stellt sich eine Idee als Blindgänger raus, wird sie schnell ohne Gesichtsverlust korrigiert.
Dass Agilität nicht von heute auf morgen passiert, bestätigt eine Studie von Haufe-Lexware. Demnach halten zwar 70 Prozent der Führungskräfte ihr Unternehmen für agil, zwei Drittel der Angestellten sind sich dessen allerdings nicht so sicher. „Wer Vuca leben und lernen will, muss seine Mitarbeiter dementsprechend aufbauen und trainieren“, gibt Woithon zu bedenken.
“regelmäßige Reflektion”
Ein wichtiger Aspekt sei die regelmäßige Reflektion. Erst, wenn das Streben nach ständiger Verbesserung in der Team-DNA verankert sei, löse sich der Bremsklotz. Eine gelebte Fehlerkultur etabliert sich. Auch soziale Komponenten wie Respekt und Wertschätzung untereinander, beeinflussen die Effizienz eines Teams. Beziehungs- und Leistungsebene müssen definiert und geklärt sein.
„Letztlich funktionieren Arbeitsgruppen immer dann, wenn alle Mitglieder einen übergeordneten Sinn im gemeinsamen Projekt sehen“, so Woithon. Je stärker Individualismus gefördert werde, desto unkooperativer seien die Leute. Teams funktionieren ihm nach dann gut, wenn alle einen übergeordneten Sinn im gemeinsamen Projekt sehen. Auch wenn die Umstrukturierung Zeit und Mühe kostet, ist Hörbert-Hersteller Brang begeistert vom Selbstverwaltungskonzept: „Mein Team ist motiviert und innovationsstark wie nie.“
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