Viele Unternehmen haben inzwischen Maßnahmen mit dem Ziel zunehmender Selbstorganisation gestartet und agile Tools in Gebrauch. Doch schon zeigt sich Ernüchterung. So manche Initiative erfüllt nicht die Erwartungen, die man in sie gesetzt hat. Was also tun?
Fast überall in den Unternehmen hat man sich mit den vielfältigen Aspekten der New-Work-Bewegung befasst. Denn niemand will sich nachsagen lassen, neue Arbeitsweisen nicht unterstützen zu wollen. Doch das meiste passiert nur punktuell. Zudem beschränkt sich das Vorgehen meist auf die Mitarbeiterseite, die Arbeitsplatzgestaltung und neue Arbeitstools. An den organisationalen Basisstrukturen hingegen ändert sich nichts.
Die alten Topdown-Organigramme mit ihren Abteilungssilos und einem damit verbundenen hierarchischen Denken und Handeln gibt es noch beinahe überall. Bei so viel Halbherzigkeit bleibt die Wirkung im Ganzen gering. Und am Ende gewinnt die alte Ordnung: „Experiment gescheitert, machen wir weiter wie bisher.“ So ist das Verteidigen eines veralteten Systems das Haupthindernis auf dem Weg in die Zukunft.
Experiment gescheitert? Weiter wie früher?
Manche reden bereits ein Scheitern von New Work herbei, um erleichtert zu den „gängigen“ Methoden von früher zurückkehren zu können. Doch das ist von Allem der größte Fehler. Denn mit alten Schlüsseln kann man keine neuen Türen öffnen. Der Rückfall ins Gestern ist ganz gewiss keine Alternative, sogar höchst gefährlich.
Die Spielregeln unserer Arbeitswelt sind in der Ära der Industrialisierung entstanden. Da gehörten sie hin und haben gute Dienste geleistet. Denn damals ging es um das Steuern und Stabilisieren. In der Digitalökonomie von heute und morgen hingegen sind hohes Tempo, Adaptionsfähigkeit und ständiges Innovieren gefragt.
Das Schlechteste, was man also bei steigendem Außendruck machen kann: Daumenschrauben anziehen, Vorgaben detaillieren, den Rahmen verengen und den hierarchischen Druck mächtig erhöhen. Volatile Zeiten und ein dynamisches Umfeld verlangen nach agilen Strukturen, um im „Wildwasser“ der Zukunft zu überleben.
Das Erfolgsgeheimnis für Change liegt im „Wie“
Wenn Change-Projekte scheitern, liegt das sehr oft am „Wie“. Schauen wir uns das „Wie“ einmal an: Groß angelegt und gern von Beratungshäusern teuer begleitet, werden klassische Change-Projekte weit oben im Unternehmen geplant und dann mit großem Tamtam über alles und jeden „ausgerollt“. Man folgt einem Hype, weil er gerade in Mode ist und zeigt puren Aktionismus, weil es jetzt alle so machen.
„Gebrauchsanweisungssüchtig“ nennt man das auch. Werden Methoden unhinterfragt wie eine Blaupause benutzt, wird der erhoffte Nutzen kaum je erzielt. Denn keine zwei Unternehmen sind gleich. Branchen und Märkte sind genauso individuell wie Geschäftsmodelle, Unternehmenskulturen und Kundenstrukturen. Zudem reagieren die Menschen auf Veränderungsprozesse je nach Typ sehr verschieden.
Wird zunächst nur in Teilbereichen eines Unternehmens mit zunehmender Selbstorganisation experimentiert, kann es bei der übrigen Belegschaft zu Missgunst oder Verständnismangel kommen. Dies lässt sich verhindern, wenn eine gute Vernetzung in die klassische Organisation besteht, wenn transparent, freundlich und reichlich kommuniziert wird, wenn Neugier geweckt und Erfolg sichtbar gemacht wird. Dabei helfen Einladungen, sich das Ganze anzusehen oder temporär mitzuarbeiten.
Die meisten Mitarbeiter wollen mehr Selbstorganisation
Das selbstorganisierte Arbeiten darf nicht abgelehnt werden, nur weil einige Mitarbeiter das (noch) nicht wollen. Die meisten Beschäftigten sind nämlich dafür. Eine Haufe-Studie, bei der knapp 12 000 Mitarbeiter aus Unternehmen in Deutschland, Österreich und der Schweiz befragt wurden, hat ergeben:
- 84 % wünschen sich mehr Mitsprachemöglichkeiten bei Unternehmensentscheidungen,
- 77 % wären motivierter, wenn sie mehr einbezogen würden, und
- 73 % glauben, dass die eigene Firma erfolgreicher wäre, wenn sich die Mitarbeiter stärker einbringen könnten.
In operativen Dingen wissen die Beschäftigten eh selbst am besten, wie etwas funktioniert und was sie dafür brauchen. Wenn hingegen oben in der Hierarchie die operative Sachkenntnis fehlt, werden Entscheidungen falsch. Oder sie dienen, verbunden mit politischen Spielchen, der Macht. „Ich gehe so weit, zu sagen, dass ein Unternehmen, in dem nur der Chef und sonst keiner entscheidet, früher oder später vor der Pleite stehen wird“, sagt Detlef Lohmann, CEO des Automobilzulieferers Allsafe, ein mittelständisches Unternehmen mit 180 Beschäftigten.
Selbstorganisation braucht einen organisatorischen Rahmen
Grundsätzlich gilt: Wer unternehmerisch handelnde Mitarbeiter will, muss diese auch unternehmerisch arbeiten lassen. Geplante Aktionen werden dann nicht nur praxisorientierter und facettenreicher, sondern auch engagierter umgesetzt. Denn nichts wird mehr vordiktiert, sondern alles in Eigenregie entwickelt. Und am Ende steht dann der „Mein-Baby-Effekt”: Was man selbst geschaffen hat, lässt man nicht mehr im Stich.
Natürlich benötigt auch Selbstorganisation einen umrissenen Rahmen von „Dos und Don’ts“, also ein Mindestmaß an Struktur und Ordnung, Routinen und Regeln. Bei Gore, unter anderem Hersteller von Textilprodukten wie Gore-Tex, gibt es dazu ein Prinzip namens „Waterline“. Es besagt: Man bohrt keine „Löcher“ unterhalb der Wasserlinie in ein Boot, in dem alle sitzen.
Dazu heißt es auf deren Website: „Jeder Associate (= der Mitarbeiter) bei Gore sucht Rat bei erfahrenen Kollegen, bevor er etwas unternimmt, was „unter die Wasserlinie“ zu geraten droht – und dadurch dem Unternehmen ernsthaften Schaden zufügen könnte.“ Gore, 1958 gegründet und sehr erfolgreich, zählt mit über 10.000 Mitarbeitern zu den ältesten und zugleich größten selbstorganisierten Unternehmen weltweit.
Die Autorin: Anne M. Schüller ist Managementdenker, Keynote-Speaker, mehrfach preisgekrönte Bestsellerautorin und Businesscoach. Die Diplom-Betriebswirtin gilt als führende Expertin für das Touchpoint Management und eine kundenfokussierte Unternehmensführung…
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