Letzter Arbeitstag vor Weihnachten. Am Heiligabend wollen wir ganz da sein. Nur noch schnell 3813831 Mails checken. Wo? Natürlich auf dem stillen Örtchen. Über die Chancen und Risiken unseres Verhaltens haben wir mit Kai Oppel gesprochen, einem Knigge-Experten…
Mensch, benimm dich! Knigge eben. Gutes Benehmen, dass gilt für viele als Erfolgsfaktor im Job. 80% der Deutschen vertreten sogar die Auffassung, dass geschliffene Umgangsformen wichtiger sind denn je. So steht’s im aktuellen Knigge-Report, eine repräsentative Studie vom Meinungsforschungsinstitut Gapfish unter 500 Deutschen für das Buch “Die Knigge-Kur” durchgeführt hat.
Knigge? Für viele ist das lediglich ein Mittel zum Zweck. “Knigge ist zurechtgestutzt worden zu einem Werkzeug im Selbstoptimierungsbaukasten. Im Mittelpunkt stehen nicht die Werte, sondern die Erfolgsaussichten”, kritisiert Kai Oppel, Autor der Buches. Hier unser Gespräch mit ihm.
80 bis 100 Mal Entsperren vom Smartphone
Karriere-Einsichten: Wir checken unsere Mails morgens direkt beim Aufstehen, im Bett. Was spricht dagegen, wann wäre ein besserer Zeitpunkt?
Kai Oppel: Es geht nicht um den besseren oder schlechteren Zeitpunkt. Es geht auch nicht darum, die Technik zu verteufeln. Es geht aus Kniggesicht vielmehr um die Frage, was es mit uns macht, wenn wir im Durchschnitt zwischen 80 und 100 Mal auf das Smartphone blicken. Knigge hat in der Zeit der Aufklärung ein Buch geschrieben – einer Zeit, in der es um Mündigkeit ging. Viele sind heute komplett abhängig vom E-Mail-Checken. Das ist das Gegenteil davon, frei zu entscheiden.
Karriere-Einsichten: … und auf dem Klo. Da sind wir doch so schön ungestört, stört Sie das?
Kai Oppel: Mir ist es ehrlich gesagt egal, wo jemand seine Mails checkt. Laut Studie, die ich für das Buch in Auftrag gegeben habe, schreiben und empfangen sogar rund 5 Prozent der Männer im Auto Mails – während sie fahren. Wir müssen uns einmal mehr fragen, wohin diese Abhängigkeit führt. Das permanente Binden von Aufmerksamkeit, das Warten auf neue Nachrichten, das stört unsere Konzentration. Es ist wichtig, dass es Orte der Ruhe gibt. Wo wir allein sind. Ob nun auf Toilette oder im Auto. Knigge hatte bereits damals viel Zeit darauf verwendet, zu sagen, wie wichtig es ist, mit und bei sich zu sein.
Karriere-Einsichten: Unser Leben spielt sich immer mehr auf, im und mit dem Smartphone ab – Beziehungen verändern sich. Ist das nicht “normal”?
Kai Oppel: Wie gesagt: Ich bin nicht technikfeindlich. Ich selbst bin ein Prototyp, der von früh bis spät online ist – auch mobil. Problematisch ist die Mischung. Ich prangere an, dass Knigge zuletzt darauf reduziert wurde, Benimmregeln ausschließlich einzusetzen, um erfolgreicher zu sein. Smartphones sind sehr effektiv, weil ich damit so schön viele Sachen machen kann. Navigation, Taxiruf, Wikipedia und und und:
Wir verlagern unsere Beziehung hin zum Handy. Viele schalten ihr Gehirn aus. Vor allem aber schalten sie die Umwelt aus. Die Menschen. Heute fragt doch keiner mehr nach dem Weg. Es geht ein Stück zwischenmenschliche Kultur verloren, vom Einsatz des Verstandes mal ganz zu Schweigen.
Karriere-Einsichten: Nur noch eben 143.272 Mails checken, danach komm’ ich zu dir – so ähnlich singt Tim Bendzko. Der ständige Blick aufs Smartphone entwertet unsere Aufmerksamkeit beim Small Talken. Was sollten wir tun?
Kai Oppel: Dazu gibt es interessanterweise verschiedene Untersuchungen. Aktuelle Forschungen kommen zum Schluss, dass die Konversation in selber Tiefe geführt werde, nur eben mit der Technik. Ich sehe das wie gesagt problematischer. Wir sind in Begriff, Gesprächskultur zu zerstören. Im Mittelpunkt steht ja auch die Frage der Priorität. Wer ist wichtiger? Die meisten blicken aufs Handy, wenn es blinkt und lassen den Gesprächspartner links liegen. Das betrifft Gespräche generell, nicht nur den Smalltalk.
Glaube an den bedingungslosen Erfolg
Karriere-Einsichten: Die Revolution des Smartphone ist erst ein paar Jahre alt. War vorher alles besser? Und was wird in den nächsten 5-10 Jahren passieren…
Kai Oppel: Für mein Buch habe ich mit verschiedenen Menschen gesprochen. Ein Kommunikationswissenschaftler malt mit Blick auf Asien, wo noch mobiler kommuniziert wird, kein positives Bild. Wir müssen lernen, bestimmte Geräte nur an bestimmten Orten zu nutzen, um nicht verrückt zu werden.
Und noch einmal: Das Handy an sich ist nicht schlecht. Gefährlich ist die geballte Kraft von Beschleunigung, Digitalisierung und Informationsflut, die auf ein Wertegerüst trifft, dass sich in den vergangenen Jahren massiv verändert hat und heute mehr unter dem Stern der Ökonomisierung steht.
Uns wurde eingeredet und wir glauben längst, dass Erfolg für jedermann machbar ist. Jeder kann es schaffen, wenn er nur schnell und smart genug ist. Das ist ein Grund, warum wir exzessiv neue Geräte und Effizienzwerkzeuge nutzen. Wir wollen einen Wettbewerbsvorteil. Wir wollen Erfolg. Wer scheitert, macht sich selbst verantwortlich.
Genau dieser Glaube an den bedingungslosen Erfolg, der durch angebliche Kniggebenimmregeln und die möglichst richtige Nutzung der Technik für jeden angeblich herstellbar ist, dieser Glaube wird viele ins Burnout führen.
Noch ein paar interessante Fakten:
- Laut Knigge-Report lesen oder beantworten 57 Prozent der Deutschen im Jahr 2015 E-Mails in öffentlichen Verkehrsmitteln
- Im Auto sind es rund 47 Prozent, beim Essen lesen und tippen 21 Prozent, im Badezimmer rund 20 Prozent
- Bei den Männern sieht es noch etwas dramatischer aus. Hier lesen und schreiben sogar 5 Prozent Mails, während sie selbst Auto fahren
Das Problem besteht laut Oppel darin, dass Knigge seit Jahren vor allem dafür herhalten muss, in der beschleunigten, digitalen und mobilen Welt eine gute Figur zu machen. “Kinder werden zu Kniggekursen geschickt, während Eltern als Vorbild beim Abendessen auf ihren Smartphones herumwischen. Oder sie korrespondieren auf der Toilette sitzend mit dem Chef oder Geschäftspartner”, so Oppel.
Dabei geht es beim Thema Knigge um mehr als passables Auftreten, indem man selbst bei Tempo 300 noch fehlerfrei eine E-Mail schreibt und nebenbei auf Englisch mit dem Vorstandsvorsitzenden telefoniert. Das Einhalten und Anwenden transformierter Benimmregeln darf vor dem Hintergrund von Digitalisierung, Informationsflut und Mobilität nicht länger Maskerade sein – quasi die gute Miene zum bösen Spiel.
Effizienz-Trieb des Businesskaspers
“Wer Knigge auf Benimmregeln kürzt, wird zum modernen Businesskasper, der marionettengleich an unsichtbaren Fäden hängt – ferngesteuert von Modediktaten, Terminen, Smartphones, Daten und vor allem den Erwartungen der anderen”, heißt es in dem mehr als 250 Seiten umfassenden Buch. Verantwortlich für die Misere sind laut Oppel Faktoren wie Effizienzdenken oder Ökonomisierung, die längst das Denken und Handeln über den Arbeitsplatz hinaus bestimmen.
Wie der Knigge-Report 2015 zeigt, bewerten viele Deutsche die Effizienz heute höher als Zurückhaltung oder Bescheidenheit. Mehr noch: Die Effizienz wird als der Wert schlechthin gesehen, der mehr gelebt wird als früher. 42 Prozent sind der Meinung, dass Effizienz heute eine wichtigere Rolle spielt als früher. Zum Vergleich: Nur 8 Prozent der Befragten sind der Meinung, dass Menschlichkeit heute einen größeren Stellenwert einnimmt als in der Vergangenheit.
“Warum wir der Effizienz nachhecheln wie ein Hund dem Würstchen, ist klar. Wir preisen die Effizienz ganz ähnlich wie Knigge. Effizienz verspricht Erfolg, wie auch Knigge Erfolg verspricht”, sagt Oppel. Ein Ergebnis: Laut Knigge-Studie surfen mittlerweile rund 40 Prozent nebenbei im Internet oder lesen E-Mails, wenn sie telefonieren. “Doch ausgerechnet dieses Multitasking führt in die Sackgasse. Wir haben Kniggetipps zum Thema Erreichbarkeit, kluge Kniggeratschläge für den Umgang mit der Informationsflut und Knigge soll uns sogar bei der Beschleunigung helfen.
Im Augenblick leben wir äußerlich so viel Knigge wie nie. Es gibt sogar Knigge fürs Bett. Innerlich fühlen wir uns aber kniggeleer. Unfrei”, sagt Oppel. In dem Buch zeigt der Autor, wie alte und neue Werte tatsächlich zu Mündigkeit und menschenfreundlichen Umgangsformen führen können. Die Knigge-Kur verdeutlicht, wie Aufmerksamkeit, Nachhaltigkeit und Fairness dabei helfen.
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