Wer über eine möglichst unvoreingenommene Berufswahl nachdenkt, kommt an zwei Themen nicht vorbei: der Selbstverwirklichung und dem Geld. Ein paar Entscheidungshilfen auf dem Weg, deiner Berufung zu folgen. Leseprobe von karrierebibel-Gründer und Bestseller-Autor Jochen Mai…
Der erste Begriff wabert spätestens seit den Siebzigerjahren durch die Breite der Gesellschaft. Das Wirtschaftswunder hat uns wählerischer werden lassen. Die Arbeit dient uns seitdem nicht mehr allein zur Einkommenserzielung, sie muss auch sinnstiftend sein und zu weit Größerem von Nutzen. Interessanterweise gibt es seit Ende der Neunziger-, Anfang der Nullerjahre eine andere Entwicklung: Viele suchen nun eher nach der sogenannten Work-Life-Balance. Was ähnlich klingt, in Wahrheit aber eine komplett gegensätzliche Sichtweise ist.
Work-Life gibt’s nicht als Balance
Nix mehr mit Selbstverwirklichung im Job. Work-Life-Balance suggeriert einen Gegensatz, den es eigentlich gar nicht gibt: Wer arbeitet, der lebt nicht. Deshalb müssen beide Pole ständig ausgeglichen werden.
Auch wenn das kurz auf ein Nebengleis führt: Ich halte den Begriff für groben Unfug. Leben und Arbeit können wunderbar symbiotisch miteinander verbunden sein, einander stärken und befruchten. Der allzeit perfekte Ausgleich, die virtuose Balance zwischen Beruf und Privatleben gelingt ohnehin nicht – es ist eine Illusion, an der allerdings manche Trainer und Autoren famos verdienen.
“Unausgeglichenheit – Motor für Engagement und Kreativität”
Der Mensch ist von Natur aus unausgeglichen. Und das ist auch gut so: Unausgeglichenheit ist unser Motor für Engagement und Kreativität. Zahlreiche Unternehmer, Manager oder Leistungsträger sind gerade deshalb so erfolgreich, weil sie von dieser inneren Unruhe getrieben werden und sich ständig verbessern wollen.
Finde deinen Rhythmus!
Balance und Ausgeglichenheit sind eher eine Frage von Lebensepisoden. Wenn überhaupt, dann gibt es so etwas wie Lebensbalance: Jeder Abschnitt verlangt von uns neue individuelle Prioritäten, bei denen wir uns immer wieder neu entscheiden müssen. Mal hat der Beruf Vorrang, mal das Private. Es geht also nicht um die Balance von Leben und Arbeit, sondern um den Rhythmus, den unser Leben bekommt – mit der Arbeit, in unserem Beruf.
Es gibt Phasen, die verlangen von uns volle Konzentration und vollen Einsatz. Vielleicht sogar über zehn, zwölf, 14 Stunden am Tag. Schlaf wird dann zur Mangelware, Freundschaftspflege zum Luxus. Aber diese Phasen gehen vorbei, und ihnen folgen in der Regel Zeiten des Ausgleichs und der Muße. Mal länger, mal kürzer. Allein diese Abwechslung sorgt schon in gewisser Weise für Balance. Und Spannung.
Leidenschaft – ohne Gucken auf die Uhr
Oder eben für Selbstverwirklichung. Kaum jemand, der seinen Beruf liebt, sich dort ausleben und weiterentwickeln kann, wird die Stunden zählen, die am Abend doch bitte wieder ausgeglichen werden müssen. Trotzdem muss da in den vergangenen Jahren etwas passiert sein, was die Menschen von ihren Berufen und ihrer Berufung entfernt hat. Und ich glaube, das ist das Geld.
Man muss das wohl ganz nüchtern feststellen: Selbstverwirklichung und ein hohes Gehalt können sich zwar parallel entwickeln, ganz oft sind sie aber Rivalen, die uns dazu zwingen, uns zu entscheiden: Will ich einen Beruf, in dem ich mich selbst ausleben und verwirklichen kann – oder möglichst viel Geld verdienen?
Soll man sich voll und ganz seiner Leidenschaft zur Kunst verschreiben, die aber möglicherweise nur sehr unregelmäßige Einnahmen bringt und bereits nach kurzer Zeit mehr Belastung als Traumjob ist? Oder soll man doch das BWL-Studium durchziehen, das man zwar ganz spannend findet und das auch beruflich mehr Türen öffnet, wo jedoch deutlich weniger Herzblut drinhängt?
Ebenso kann es bei der Auswahl eines Arbeitgebers sein: Der kleine Betrieb bietet möglicherweise mehr Freiheiten, man kann sich selbst stärker einbringen, Ideen verwirklichen und Projekte anstoßen. Genau das, was man sich immer gewünscht hat. Die
Karriere im großen Konzern bringt dafür aber mehr als das doppelte Gehalt und die Chance, nach einigen Jahren ins gehobene Management aufzusteigen.
Außerdem klingt es auch im Lebenslauf und vor Freunden schicker, wenn man sagen kann: »Aktueller Arbeitgeber: Audi« statt »Aktueller Arbeitgeber: Anton Müller GmbH«. Dafür hat man allerdings auch immer das Gefühl, nur ein Zahnrad in einem sehr großen Getriebe zu sein, ohne wirklich zu sehen, welchen Beitrag man selbst zum Gesamterfolg leistet…
Exklusiver Auszug/ Serie in 5 Teilen aus: Jochen Mai: Warum ich losging, um Milch zu kaufen, und mit einem Fahrrad nach Hause kam. Was wirklich hinter unseren Entscheidungen steckt, © 2016 dtv Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG, München – andere Teile der Serie hier lesen!
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