Künftig leben in Deutschland viel mehr ältere als jüngere Menschen. Eine Frage des Generationen-Wandels: Eltern zu Hause pflegen oder im Altersheim? Besonders Familien ehemaliger türkischer Gastarbeiter fällt diese Entscheidung schwer. Die Tabus brechen langsam…
Gemeinsam mit anderen Bewohnern sitzt Ziya Bircan im Wohnzimmer und schaut fern. Der Mann, Mitte sechzig, kam vor knapp einem Jahr hierher. Das war nach seinem Herzinfarkt. Seitdem gehört er zu den rund fünfzig Menschen, die hier nach ihren türkischen Bräuchen und Sitten im Alter leben. Das heißt zum Beispiel, dass Männer nur von Männern und Frauen nur von Frauen gepflegt werden, was Bircan wichtig ist. Er ist nur einer der ehemaligen Gastarbeiter, die vor mehr als vierzig Jahren aus der Türkei nach Deutschland gekommen sind, auf eigenen Wunsch, um hier gut bezahlte Arbeit zu bekommen. Hören Sie selbst…
Vor rund vierzig Jahren führte ihn die Neugier nach Deutschland. Doch nicht nur finanzielle Gründe lockten Bircan über Umwege mit viel Glück in die Republik. Seine Liebe sorgte dafür, dass er blieb. Der zweifache Vater erinnert sich gern an seine turbulenten, aufregenden jungen Jahre. Damals war alles anders Den Nachmittag im Frankfurter Tanzcafé wird er dabei nie vergessen, als er sich in das Mädchen verliebte, dass er später heiratete.
Geschichten vom (früheren) Berufsleben
Ein Lächeln huscht über sein Gesicht, wenn er daran zurückdenkt. Damals habe er etwas von der Welt sehen wollen. Zuerst arbeitete er bei Frankfurt in einer Fabrik. Erst einige Jahre später zog ihn seine Liebe nach Berlin. Deshalb sei er hier geblieben. Bis zu einem Herzinfarkt Anfang der Neunziger hat er in Berlin gearbeitet. Die Krankheit kam plötzlich. Dann ist er Frührentner geworden. Ein Fernsehbericht habe ihn dann auf das türkische Pflegeheim aufmerksam gemacht.
Über ernste Dinge, seine Ängste vor der Krankheit und die Geschichten von früher kann er mit Yildiz Akgün sprechen. Sie ist Sozialarbeiterin im Türk Bakim Evi und weiß, was alte Menschen brauchen. Und, dass viele Familien mit ihren pflegebedürftigen Eltern überfordert sind. Doch es falle Angehörigen schwer, einen pflegebedürftigen Menschen ins Heim zu bringen, sagt die Frau in fürsorglichem Ton…
Es sei deshalb ihre Aufgabe, den jüngeren Türken die Altenpflege ihrer Liebsten näher zu bringen. Schritte aufeinander zu Akgün will fürs eigene Haus Vertrauen schaffen, ihrer Zielgruppe klarmachen, dass die Pflege der Eltern auch „auf eine gesündere Art“ zu machen ist. Gesünder, als die Pflege wie üblich allein der Frau zu überlassen, sagt die Sozialarbeiterin. Besonders konservative Türken würden denken, dass die Eltern das Gesicht gegenüber der Gesellschaft verlieren, wenn sie „ins Altenheim abgeschoben“ werden.
Spannungen im Familienleben
Viele Alte würden deshalb noch zu Hause gepflegt, was „nicht immer ein Vorteil“ sei. Für viele der rund 270.000 Türken in Berlin ist der Gedanke, die Eltern ins Pflegeheim zu geben, ein Tabu. Deshalb geht Yildiz Akgün raus in die Berliner Moscheen, spult ihre Powerpoint-Präsentationen vom Laptop ab und spricht anschließend mit türkischen Familien über die Probleme mit den Eltern.
Yildiz Akgün kann sie gut verstehen. Die Hürde der Scham sei nicht so leicht zu umgehen. Um Spannungen in der Familie zu vermeiden, würden die Frauen die Pflege der Eltern meist komplett übernehmen. Viele Frauen würden erst durch die Hochzeit nach Deutschland kommen, wobei dieses Opfer normal sei, sagt Akgün „die Familie geht davon aus, dass die Frau das macht“. Ähnlich war das bei ihr: „Selbstverständlich war das Thema auch bei uns zu Hause ein Tabu“, sagt sie.
Lange Zeit konnte die Frau, die selber als Aufklärerin in Sachen Altenpflege unterwegs ist, nicht mit ihrem Vater darüber sprechen. Kein Weg zurück Wenn Menschen älter werden, komme es vor allem auf ihre Sprache, Kultur und Religion an, mit der sie groß geworden sind. Man würde wieder zu seinen Ursprüngen zurückkehren, das Langzeitgedächtnis ein größeres Gewicht habe, sich eher an Anatolien als gestern in Berlin zu erinnern.
Altenpflege – Geschäftsmodell mit Zukunft?
Zwischen heute und damals bei der Einwanderung, haben sie sich natürlich verändert, einen anderen Lebensstil gefunden. Daher sei es kaum möglich, wieder zurück in die alte Heimat zu gehen. Viele haben noch Verwandte in der Türkei – einen Sozialhilfeanspruch haben sie nicht. Nachfrage erwünscht Die Vorbehalte in der Türkischen Gemeinde zu Berlin gegenüber dem Pflegeheim werden inzwischen leiser.
“Zweisprachigkeit, ein Schlüssel”
Sie ist Mitgesellschafter des Hauses. Seit einigen Monaten kommen mehr neue Bewohner ins Heim als zu Beginn. Die Diskussion über die Zukunft der Eltern sei etwas leichter geworden, heißt es auch aus der Türkischen Gemeinde. Im Heim arbeiten nur zweisprachige Mitarbeiter, alle von ihnen haben selbst türkische Verwandte. Von den rund 150 Betten des bundesweiten Pilotprojekts sind jedoch erst ein Drittel belegt, obwohl rund drei Millionen Türken in Deutschland leben…
Neika Kaba-Retzlaff, Leiterin des Pflegeheims, überrascht das nicht. Mit gutem Beispiel „Es liegt daran, weil wir die erste Einrichtung dieser Art sind, weil viele türkische Menschen nicht von diesem Angebot noch nichts wissen“, sagt die zierliche Frau im Hosenanzug, die aber auf Zack zu sein scheint, mit akkurat geschnittener Frisur und ernsthaften Auftreten. Ein weiterer Grund: Die Pflegebedürftigkeit ist in türkischen Familien erstmalig aufgetreten. „Unsere Bewohner gehören zur ersten Generation türkischer Einwanderer. Sie sind die ersten von uns, die alt werden.
Wir haben in Deutschland keine Vorbilder“, sagt die Leiterin des Altenheims. Integration adé Harald Berghoff, Geschäftsführer des Pflegeheims ist da mit Nejla Kaba-Retzlaff einer Meinung: „Ganz klar muss man auch sagen, dass unsere Bewohner jetzt seit dreißig, vierzig Jahren in Deutschland leben. Da jetzt mit neuen Integrationskonzepten anzufangen, bringt nichts. Der Zug ist in dieser Sache tatsächlich abgefahren“, sagt der Geschäftsführer nüchtern. Bei einem Menschen, der nach fünfzig Jahren noch nicht integriert ist, aus welchen Gründen auch immer, müsse man heute nicht mehr versuchen, ihn „auf seine letzten Lebensjahre noch zu integrieren“, so Berghoff.
Über den Autor: Jan Thomas Otte recherchierte diese Reportage für das Deutschlandradio Kultur. Dabei begegneten ihm nicht nur Widerstände und Tabubrüche, sondern auch Hoffnungsvolles im Mehrgenerationen-Miteinander…
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