Was passiert, wenn Unternehmen das Querdenken professionalisieren? Bisher wird das meist noch als Frechheit empfunden, die sich nur Chefs leisten können. Noch. Eine inspirierende Satire von Professor Gunter Dueck, dem Technik-Chef bei IBM…
Zitat: „Ich möchte die heutige Sitzung mit einem Bericht von Vice President Dr. Earnest Dogma einleiten, den ich vor einigen Monaten mit der Einführung eines unternehmensweiten Querdenkerprozesses beauftragt habe. Querdenken darf weder Zufall noch Einzelereignis sein.
Wie Sie selbst in der Presse verfolgen konnten, hat unser Unternehmen einen erheblichen Imagegewinn bei dieser Aktion gewinnen können. Das war unsere Absicht. Dr. Dogma hält nun viele Vorträge bei anderen Unternehmen, die ebenfalls das interne Querdenkertum konkret systematisieren und strukturieren wollen. Earnest, bitte!“
„Danke, dass ich Ihnen meine Erfolge zeigen darf“
Der Prozess ist inzwischen definiert und erfolgreich etabliert. Wir warten derzeit auf die ersten Ergebnisse. Es fehlt noch das rückhaltlose Commitment des ganzen Managements für das Querdenkertum, damit der revolutionäre Kulturwandel wirklich komplett ist. Lassen Sie mich präsentieren, wie wir dabei strukturiert und sehr konkret vorgingen.
Wir standen zunächst vor dem Problem, dass unser Auftrag zu vage erschien. Was ist ein Querdenker? Wie erziele ich systematisch gute quere Gedanken, die sich nahtlos in die bestehenden Prozesse einfügen? Haben wir im Unternehmen eine kritische Masse von Querdenkern?“
„Entschuldigung, wenn ich unterbreche. Sie wollen hier eine kritische Masse?“
„Äh, das haben Sie falsch verstanden, ich meine, haben wir genug Querdenker? Zwei oder drei? Oder wie viele brauchen wir überhaupt? Diese inhaltlichen Fragen konnte keiner im Team beantworten, weil wir selbst alle nur den Master of Business Artistry haben.
Deshalb haben wir auf unser bewährtes Consulting Framework zurückgegriffen, um eine Vollerhebung durchzuführen. So können wir die im Unternehmen möglicherweise versteckten Querdenker schnell enttarnen, äh, assessen.“
„Haha, bei mir im Bereich ist ganz sicher keiner. Das wüsste ich!“
Wie unterscheiden Sie einen Querdenker vom Querulanten?
„Wir haben das im Laufe des Verfahrens durch einen Winkel definiert, um wie viel Grad etwas von der offiziellen Linie abweichen darf. Null Grad ist zu wenig, das trifft auf fast alle zu, 90 Grad ist ganz klar querulant, 180 Grad zu alt.
Wir haben dann auf den Druck unseres Beratungshauses 30 Grad Höchstabweichung von der offiziellen Linie festgelegt, damit wir dessen Fragebogentechnik einkaufen konnten. Nach drei Monaten ergab die Vollbefragung, dass nur ab und zu von einzelnen Mitarbeitern Abweichendes geäußert wurde, aber in fast jedem Fall nur einmal.
Wir haben im Unternehmen keine konsistenten Abweichler, die auch auf ihrer Meinung bestehen.“
„Bravo!“
„Ich pflichte Ihnen bei, Herr Kollege, aber wenn man Querdenker finden muss, dürfen die persönlichen Einstellungen keine Rolle spielen. Ich habe keinen leichten Job. Wir hatten zwischendurch einmal eine Kandidatin, aber es stellte sich heraus, dass sie nur an das glaubte, was über uns in der Zeitung steht.“
„Haben Sie abgemahnt?“
„Nein, wir haben ihr versprochen, sie laufen zu lassen, wenn sie dafür die Querdenkerin in der Presse gibt. Wir verhandeln noch, aber sie verlangt ein Training, bevor sie hier im Meeting vorgestellt werden kann.
Im Grunde könnten wir ihr beibringen, alle diejenigen Mitarbeitermeinungen offen auszusprechen, die wir ausmerzen wollen. Dann machen wir sie als Exempel nieder. Wir dachten daneben daran, professionelle Querdenker einzustellen, aber die sind viel zu teuer.
Mitten in diese Überlegungen hinein fiel uns ein, dass wir eigentlich gar keine Querdenker an sich wollen, sondern nur quere Gedanken, die sich noch im gleichen Quartal als Millionenidee herausstellen.
Die müssen wir bei den Mitarbeitern konsequent abschöpfen. Ich gebe Ihnen ein Beispiel. Eine Hydrokulturassistentin hat lautstark Lohnerhöhungen gefordert, weil wir ihr diese neue Berufsbezeichnung gegeben haben.“
„Undankbar!“
„Genau, da fragte ich sie, wie wir das bezahlen sollen. Sie meinte ganz trocken, wir sollten mehr Profit machen. Genau diesen Ratschlag aber haben wir bei unserem Beratungshaus mit Millionen Euro bezahlt! Dieses Beispiel zeigt, wie viel unerkanntes Potential im Querdenken steckt.
Wir haben deshalb eine unternehmensweite anonyme Umfrage nach queren Ideen gestartet. Wir wollen diese Ideen massenhaft sammeln, danach sichten, später genau evaluieren und dann zum Schluss in PowerPoint-Präsentationen umwandeln, mit Sprechertext, damit sie jeder hier im Raum auf Bedarf halten kann. Die besten Quergedanken pressen wir auf eine DVD zum Jubiläum.“
„GrowthWinExcellenceFutureDedication-Initiative“
„Halt, halt, aber da darf nichts verteilt werden, was unsere GrowthWinExcellenceFutureDedication-Initiative schief erscheinen lässt, oder? Kollegen? Das ist doch gefährlich?“
„Keine Sorge, wir stimmen das Monate lang mit der Mitarbeiterkommunikation ab. Wir haben große paritätisch besetzte Taskforces ins Leben gerufen, die die queren Gedanken nach Grad messen und eine erste Downselection vornehmen, dann andere Taskforces, die die Gedanken ranken und evaluieren.
Aber bei Neuland?
Sobald wieder andere Cross-Integration-Taskforces zur Qualitätssicherung dafür Kriterien entworfen haben, was „quer“ inhaltlich ist, nicht nur quantitativ nach dem Grad der Abweichung. Sobald es allerdings inhaltlich wird, stoßen wir an die Grenzen unserer eigenen Kompetenzen.
Inhalte sind normalerweise immer da, das ist so! Komisch eigentlich, und wir managen sie dann nur oder verdünnen sie. Aber bei Neuland? Wir haben gegen die ursprüngliche Absicht Einstellungsgespräche mit professionellen Querdenkern von anderen Unternehmen geführt.
Wir haben sie auf die Probe gestellt, aber ihre Quergedanken waren alle absolut querulant. Wir haben sie damit hart konfrontiert, aber die Headhunter, die die Vermittlungsprovision in Gefahr sahen, argumentierten, dass die Kulturen der Unternehmen zu verschieden wären.
Was in einem Unternehmen quer wäre, könnte bei einem anderen zu weit gehen. Die Bewerber versprachen, sich einige Monate in unser Denken einzupassen und sich daran zu gewöhnen, damit sie mehr normale Ideen hätten. Können wir so lange warten?
Etwas Verwertbares herausbekommen…
Ich weiß von anderen, dass unser Unternehmen von außen angeblich schwer zu verstehen ist, schwerfällig agiert, die Kunden missachtet und ungerührt schlechte Produkte verkauft. Solche Leute aber, die das denken, stellen wir doch nicht noch ein, damit sie endlich verstehen, wie unser Unternehmen tickt, um sich an uns anzupassen?
Irgendwann muss doch einmal etwas Verwertbares herauskommen, oder? Wir sind aber auf dem richtigen Weg. Wir wissen, was wir wollen, aber noch nicht ganz, wie wir unsere Erfolge noch besser darstellen. In der Presse werden wir jedoch fast gefeiert, dass wir es uns als stockverkrustetes Unternehmen zutrauen, abweichende Gedanken anzu.., nein, abzuw.., auch nicht … hmmh.“
„Na, Kollege, halten Sie noch etwas durch. Sie schaffen viel. Wir sind sehr glücklich, dass unser Image so glänzt. Wir haben in Ihnen einen bewährten Kempen, der im letzten Jahrzehnt die Themen Qualität, Kundenzufriedenheit, Innovation, Gleichstellung, Unternehmensethik.
Der Prozesstod ist sicher!
Risikomanagement mit immer den gleichen bewährten professionellen Managementmethoden in den sicheren Prozesstod getrieben hat, so dass uns die herausragenden Erfolge in der Öffentlichkeit fast nur Ihr Gehalt gekostet haben und die Partizipation fast jedes Mitarbeiters in einem halben Dutzend von mind-shaking Taskforces. Danke soweit für Ihren Bericht!“
Aus der Ecke noch eine Wortmeldung: „Entschuldigung, eine Frage: Sollten wir ihn nicht zum Senior Vice President befördern? Das verdient er nicht an sich, aber seine Aktionen hätten dadurch mehr Gewicht.“
„Nein, das haben wir im kleinen überregionalen Kreis diskutiert.
Man würde dann außerhalb denken, wir speziell nehmen das alles sehr ernst, und dann verlören wir bei den anderen ziemlich viel an Respekt. Es kommt immer auf das richtige Maß an, mit dem man predigt, ohne zu tun.“
Über den Autor: Gunter Dueck ist Chief Technology Officer bei IBM Deutschland. Und Experte für alles, was nach „Zukunftsmusik“ klingt. Zum Beispiel beim Querdenker-Club und anderswo…
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