Woran erkennen Sie, ob Ihre Firma ein Irrenhaus ist? Ethik im Assessment-Center. Martin Wehrle sind einige Kennzeichen aufgefallen, vor allem bei der Personal-Auswahl…
Ein Irrenhaus, das etwas auf sich hält, nimmt nicht jeden auf. Nur die besten Bewerber werden in das Arbeitshimmelreich der Firma vorgelassen. Doch wie gelingt es, die Crème de la Crème zuverlässig abzuschöpfen? Wer sich nur auf die Bewerbungsunterlagen, auf Einstellungsgespräche verlässt, kann Bewerbungsschwindlern aufsitzen. Doch gottlob ist die Personalauswahl im 21. Jahrhundert nicht mehr auf die Instrumente des vorindustriellen Zeitalters angewiesen.
Mittlerweile gibt ein Ausleseinstrument, das der herkömmlichen Bewerberauswahl so weit überlegen scheint wie das Flugzeug der Postkutsche: das Assessment Center. Bei dieser Methode mit wissenschaftlichem Anspruch ist nicht entscheidend, was der Bewerber von sich behauptet, sondern vielmehr, wie er in realitätsgetreuen Situationen handelt. Die Kandidaten durchlaufen einen Übungsparcours. Derweil schauen ihnen professionelle Beobachter, zum Beispiel Psychologen, auf die Finger – und den Mund.
Jedes Wort, jede Bewegung wird interpretiert, um daraus Schlüsse auf das spätere Verhalten am Arbeitsplatz zu ziehen. Schon mehrfach hatte ich die Gelegenheit, Assessment Centern als Beobachter beizuwohnen. Was passiert genau? Es gibt zwei Arten von Übungen: solche, die der Bewerber allein absolviert, etwa seine Selbstpräsentation; und solche, bei denen mehrere Teilnehmer gemeinsam antreten, etwa die Gruppendiskussion.
Diese Diskussion ist oft das Zünglein an der Waage. Den Möchtegern-Insassen wird ein Thema vorgegeben, sagen wir: »Bietet die Finanzkrise auch Chancen – oder ist sie vor allem ein Desaster?«Und dann, wie mit einem Gong im Boxring, ist der Diskussionskampf eröffnet. Die Beobachter auf der Tribüne möchten nun sehen, wie sich die Bewerber in der Arena schlagen.
Wer das Wort gleich an sich reißt und es in der nächsten Viertelstunde nicht mehr loslässt, ist als Egomane enttarnt und abgeschrieben. Wer wie ein Fähnchen im Wind schwankt, mal diesen, mal jenen Standpunkt teilt, wird als Meinungs-Angsthase verurteilt.
Wer aktiv zuhört,seine Meinung klar äußert und schließlich eine konstruktive Lösung ansteuert, geht als Charakterheld und Kommunikationstalent aus der Übung hervor.
Nur zwei Haken hat dieses Spielchen. Erstens zeigt auf dieser Ebene niemand sein natürliches Verhalten. So wie ein Schulkind, wenn es vom Lehrer beobachtet wird, dem anderen keinen Schneeball ins Gesicht feuern wird – wohl aber eine Sekunde später, wenn der Lehrer sich umgedreht hat!
Die Kandidaten agieren taktisch: Wer sonst ein Rechthaber ist, der andere Meinungen wegwischt, gibt sich alle Mühe, andere Bewerber ins Gespräch einzubinden (»Was meinst denn du dazu?«), Kompromisse anzusteuern (»Wie könnten wir uns einigen?«) und den eigenen Redefluss spätestens nach 30 Sekunden zu zügeln.
Natürlich werden die anderen Teilnehmer mit Namen angesprochen, denn auf diese Weise lassen sich weitere Punkte sammeln. Ebenso verbiegen die meisten Diskutanten ihre Meinung, bis sie als Schlüssel zur Firmentür passt. Wer die Finanzkrise als gerechte Strafe für eine geldgierige und skrupellose Industrie sieht, die ihre riskanten Geschäfte auf dem Rücken der Allgemeinheit austrägt, wird sich diesen Standpunkt beim Assessment Center einer Bank hübsch verkneifen.
Stattdessen legt er ein gutes Wörtchen für die Banker ein, die ja in ihrer überwiegenden Mehrheit – siehe den Direktor der örtlichen Volksbank! – anständige Leute sind. Ihr »Termingeschäft«? Das pünktliche Auf- und Abschließen ihrer Filiale.
Nur die wirklich schüchternen Bewerber, die fachlich und charakterlich oft die besten sind, bleiben in dieser Quasselbude auf der Strecke. Es gelingt ihnen nicht, sich auf Knopfdruck vom Wässerchen in einen sprudelnden Wortbach zu verwandeln.
Sie verfügen über große Qualitäten (auf die eine professionelle Personalauswahl achten müsste), aber nur über ein geringes Talent, sich zu verkaufen (was bei der Personalauswahl für diemeisten Berufe nur eine untergeordnete Rolle spielen sollte). Jedes Assessment Center ist eine Einladung zum Karneval, Verkleiden der eigenen Schwächen.
Die einzige Qualifikation, die sich oft nachweisen lässt, ist ein Talent zur Schauspielerei.
Doch die Firmen tun so, als hätten sie bei dieser Art der Personalauswahl dieselbe Trefferquote wie ein Mathematikprofessor beim Durchrechnen des Einmaleins.
Die Rechnung der Experten sieht anders aus. Zum Beispiel sagt Professor Heinz Schuler von der Universität in Hohenheim, Deutschlands Nummer eins für Personalpsychologie: Einfache Einstellungsinterviews sind oft zuverlässiger als Assessment Center.
Auch die »AC-Studie 2008«, exklusiv von der Zeitschrift »Harvard Businessmanager« vorgestellt, watscht die Assessment Center ab: Zwar schicken 71 Prozent der DAX-Unternehmen mindestenseinmal im Jahr Bewerber und Mitarbeiter durch ein AC.
Trotz dieser Routine pfeift die Professionalität aus dem letzten Loch:»Anwendungsfehler (sind) an der Tagesordnung«, sagte Studienleiter Christof Obermann. »Ich schaue mir oft AC an, und da gibt’s viele, die den Namen nicht verdienen.«
An allen Ecken und Enden hapert es: Die Übungen sind weltfremd, sie haben mit den späteren Aufgaben nichts gemeinsam. Die AC werden dilettantisch vorbereitet, aber unpräzise durchgeführt. Und die Maßstäbe sind oft so ausgelegt, dass ein Unternehmen nur das eigene Personal reproduziert, statt sich frisches Blut zu holen.
Eine Klientin von mir, Personalerin eines Medienkonzerns, hat die Not zur Tugend gemacht: »Ich achte im Assessment Center auf das, was die meisten meiner Kollegen gar nicht interessiert: Was passiert zwischen den Übungen? Wie gehen die Bewerber vor dem Startschuss miteinander um, wenn es zum Beispiel darum geht: In welcher Reihenfolge treten die Kandidaten zu den Einzelübungen an? Diese Situation scheint den Bewerbern unverfänglich – da kann ich tatsächlich etwas über ihre Persönlichkeit erfahren.
“eine Maske”
Später tragen sie eine Maske, das ist uninteressant. Wir machen diesen AC-Zirkus nur, weil die Geschäftsleitung das für modern erachtet.«Hier kommt wieder meine Lieblingsattitüde der Irrenhäuser: Sie wollen ihrem irrationalen Handeln rationalen Anstrich geben. Auch wenn diese Personalauswahl nicht halbso wissenschaftlich, dafür doppelt so dilettantisch ist, wie die Irrenhaus-Direktoren es verkünden. Ab wann ist dies der Fall?
Heuchelei: Firma tut nicht, was sie sagt…
Sie verspricht Mitarbeitern (und Kunden) mehr, als sie hält. Sie pflegt Leitsätze, die nicht gelten. Sie stellt Forderungen, die nicht zu erfüllen sind. Nur eine Moral ist ihr heilig: die Doppelmoral.Wahr ist, was ihr nützt. Solche Firmen sind Spezialisten für Fassadenbau – nur ihr Außenbild ist makellos.
Profitsucht: Firma fühlt sich nur »höherem« Ziel verpflichtet
Der Kunde ist für sie nur eine Einnahmequelle, ein »Account«; die Umwelt ist für sie nur ein Rohstoff, den es auszubeuten gilt; und der Mitarbeiter ist nur ein Mohr, der gehen kann, wenn er seine Schuldigkeit getan hat. Der Baggerdes Personal- und Kostenabbaus schlägt ohne Skrupel zu. Vor allem Konzerne handeln nach dieser plutokratischen Maxime.
Egozentrik: Die Firma ist mit sich selbst beschäftigt
Man definiert Prozesse, zelebriert Meetings,schlägt Schaum. Mal herrscht Chaos, etwa nach einer Restrukturierung, dann Erstarrung, etwa nach einer Budgetsperre. Die Mitarbeiter sind auf den Chef fixiert. Der Kunde spielt die letzte Geige.
Dilettantismus: Firma stolpert über die eigenen Füße
Hier wird kein Geschäft geführt, hier wird fröhlich dilettiert. Die Führungskräfte verdienen ihren Namen nicht. Die Entscheidungenwerden gewürfelt. Der Horizont reicht nicht weiter als der Stadtbus. Vor allem im Mittelstand macht sich dieser unfähige Irrenhaus-Typus breit. Haben Sie Ihre aktuelle Firma erkannt? Und Ex-Firmen womöglich auch? Dann interessiert es Sie bestimmt, wie dieser Irrsinn unterm Firmendach gewachsen ist.
Wer bei der Personalauswahl schwere Fehler begeht, braucht dafür gute Gründe. Einer dieser Gründeheißt: Assessement Center. In Ihrer Firma regiert der Irrsinn? Sie sind nicht allein, findet Wehrle. Tyrannische Chefs pflegen ihre Marotten. Statt über Sachfragen zu diskutieren, werden in endlosen Meetings Machtkämpfe ausgefochten.
Über den Autor: Martin Wehrle blickt seit Jahren hinter die Fassaden deutscher Firmen. In Gesprächen mit Angestellten bietet sich ihm ein Bild des Schreckens: Deutschlands Unternehmen werden vom Irrsinn regiert, so sein Fazit…
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